Relevanz der Pharmakotherapie für den CO₂-Fußabdruck von Arztpraxen
Der Gesundheitssektor ist weltweit für 4,4% der gesamten Treibhausgasemissionen verantwortlich; in Deutschland ist dieser Anteil mit 5,2% sogar noch höher, wobei CO2 den Hauptanteil dieser Emissionen ausmacht. Ein wesentlicher Teil entsteht dabei durch die Produktion, den Transport und die Entsorgung von Arzneimitteln. Insbesondere in der ambulanten Versorgung ist der Beitrag von Medikamenten zu den Gesamtemissionen einer Arztpraxis erheblich und stellt den größten Anteil am CO₂-Fußabdruck einer Arztpraxis dar. Eine rationale und umsichtige Pharmakotherapie hat somit eine zentrale Bedeutung für die Emissionsreduktion in der Praxis und bietet eine konkrete Möglichkeit, zum Klimaschutz im Gesundheitswesen beizutragen. Durch eine optimierte Verschreibungspraxis, die neben therapeutischen auch ökologische Kriterien berücksichtigt, können Ärztinnen und Ärzte die CO₂-Emissionen ihrer Praxis signifikant reduzieren, ohne die Qualität der Patientenversorgung zu beeinträchtigen.
Vermeidung von Übermedikation: Ein Schlüssel zur Entlastung der Umwelt
Schätzungen gehen davon aus, dass in westlichen Industrieländern bis zu 30% der medizinischen Leistungen überflüssig und etwa 10% sogar schädlich sind. Übermedikation belastet nicht nur die Gesundheit der Patientinnen und Patienten, sondern auch die Umwelt: Jedes zusätzlich hergestellte Arzneimittel verursacht Emissionen und verbraucht wertvolle Ressourcen. Die damit verbundenen Treibhausgasemissionen und weiteren Umweltbelastungen sind schwer zu rechtfertigen, wenn medizinische Verschreibungen, diagnostische Verfahren oder Interventionen über den tatsächlichen Bedarf hinausgehen. Um unnötige Emissionen entlang des gesamten Lebenszyklus von Medikamenten zu vermeiden, ist eine evidenzbasierte Verschreibungspraxis, beispielsweise mit passgenauen Packungsgrößen, erforderlich.
Eine präzise, bedarfsorientierte Arzneimittelverordnung kann die größten und unmittelbarsten CO₂-Einsparungen in der hausärztlichen Praxis ermöglichen. Gleichwohl muss diese Ressourcenschonung sicherstellen, dass es zu keiner Unterversorgung von Patientinnen und Patienten kommt. Ein strukturiertes Medikationsmanagement, das Doppelverordnungen vermeidet, stellt hier eine effektive Strategie dar, um Klima und Umwelt zu entlasten. Das Aktionsbündnis Patientensicherheit unterstützt dabei mit Leitlinien zur guten Verordnungspraxis und bietet wertvolle Handlungsempfehlungen.
Kritische Indikationsstellung: Protonenpumpenhemmer im Fokus
Ein besonders wichtiger Aspekt der rationalen Pharmakotherapie ist die kritische Indikationsstellung bei Medikamenten, welche häufig über- oder fehlverwendet werden, wie beispielweise Protonenpumpenhemmer (PPI). PPIs zählen zu den weltweit am häufigsten verordneten Medikamenten. In den letzten zehn Jahren hat sich ihr Verbrauch mehr als verdreifacht; allein im Jahr 2022 wurden in Deutschland etwa 3,8 Milliarden Tagesdosen durch Ärztinnen und Ärzte verschrieben, wie der Arzneimittelversorgungs-Report 2023 berichtet. Ein wesentlicher Grund für diesen Anstieg wird in einer häufig zu langen Anwendung sowie der Verordnung ohne eindeutige Indikation gesehen. Oftmals erfolgt die Erstverordnung von PPIs im Krankenhaus, woraufhin die Medikation im ambulanten Bereich fortgesetzt wird. Tatsächlich gehören PPIs aber zu den Medikamenten, die nach erneuter Indikationsüberprüfung häufig abgesetzt werden können. Bei Patientinnen und Patienten mangelt es oftmals an Informationen darüber, ob und wie die PPI-Dosis nach der Entlassung aus der stationären Behandlung schrittweise zu reduzieren oder das Präparat vollständig abzusetzen ist. Um dieser Überverordnung entgegenzuwirken, ist eine strengere Indikationsstellung, Patientenaufklärung sowie die Vermeidung von (ungeprüften) Folgeverordnungen und der Ausgabe von Großpackungen angezeigt. Langzeittherapien sollten gemäß den Empfehlungen der "Deprescribing"-Leitlinie der American Gastroenterological Association auf spezifische Patientengruppen beschränkt werden.
Auswahl umweltfreundlicher Wirkstoffe
Die Belastung des Ökosystems durch Arzneimittelrückstände ist ein globales Problem. Hoher Arzneimittelverbrauch und unkritische Entsorgungspraktiken führen zu einer Akkumulation langlebiger und umweltschädlicher Rückstände. In Deutschland wurden bereits Rückstände von mindestens 414 verschiedenen Arzneimittelwirkstoffen sowie deren Metaboliten oder Transformationsprodukten in der Umwelt nachgewiesen, vor allem in Flüssen, Bächen und Seen. Besorgniserregend ist auch das Auftreten geringer Wirkstoffkonzentrationen im Trinkwasser. Mit dem demografischen Wandel und der Alterung der Bevölkerung ist ein weiterer Anstieg des Arzneimittelverbrauchs und damit eine zusätzliche Belastung der Umwelt durch Arzneimittelrückstände zu erwarten.
Medikamente unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Abbaubarkeit, Bioakkumulation und toxischen Effekte auf die Umwelt. Häufig identifizierte Wirkstoffgruppen in der Umwelt umfassen Antiepileptika, Analgetika, Antibiotika sowie Betablocker und iodierte Röntgenkontrastmittel. Besonders hohe Konzentrationen wurden bei Antidiabetika, iodierten Röntgenkontrastmitteln, Blutdrucksenkern sowie Diuretika festgestellt. Auch wenn bisher keine wissenschaftlichen Belege für unmittelbare Gesundheitsgefahren durch Arzneimittelrückstände in der Umwelt vorliegen, erscheint es aus präventiver Perspektive sinnvoll, die Einträge dieser Substanzen in die Umwelt zu minimieren. Der „Green Pharmacy“-Ansatz empfiehlt, wenn therapeutisch möglich, umweltfreundlichere Wirkstoffalternativen zu wählen und den Einsatz besonders umweltschädlicher Wirkstoffe zu vermeiden. Ein Beispiel für eine praktische Umsetzung dieser Strategie findet sich in Stockholm, Schweden, wo zwischen 2017 und 2021 die sogenannte „Wise List“ entwickelt wurde. Diese Liste unterstützt medizinisches Fachpersonal bei der Auswahl von Medikamenten mit vergleichbarer therapeutischer Wirksamkeit, jedoch geringeren ökologischen Auswirkungen, und dient als Modell für eine nachhaltigere Verschreibungspraxis.
Umweltbelastende Darreichungsformen vermeiden
Die Wahl der Darreichungsform eines Medikaments kann wesentliche Auswirkungen auf die Umwelt haben, insbesondere im Hinblick auf die klimabewusste Verordnung inhalativer Arzneimittel. Inhalativa beeinflussen in unterschiedlichem Maße den Klimawandel. Dabei tragen Dosieraerosole (DA), die klimaschädliche Treibgase enthalten, ein deutlich höheres atmosphärisches Schädigungspotenzial als Pulverinhalatoren (DPI). Technisch bedingt verbleibt in DA auch nach der Restentleerung eine geringe Menge des Treibgases im Behältnis, was ihre Entsorgung erschwert. Sofern therapeutisch vertretbar, sollten daher DPIs den DAs bei der Behandlung von obstruktiven Atemwegserkrankungen vorgezogen werden. Hierbei müssen jedoch die motorischen und kognitiven Fähigkeiten der Patientinnen und Patienten berücksichtigt werden, da die Anwendung von DPIs ein forciertes Inspirationsmanöver erfordert. Die aktuelle S2k-Leitlinie „Klimabewusste Verordnung von Inhalativa“ empfiehlt dementsprechend bei Jugendlichen über 12 Jahren und Erwachsenen mit obstruktiver Lungenerkrankung eine klimabewusste inhalative Therapie (vorzugsweise mit einem DPI); dies gilt in der Regel auch für den bedarfsweisen Einsatz. Die Leitlinie bietet zudem einen Verordnungsalgorithmus, der mit verschiedenen Entscheidungshilfen die klimafreundliche Verordnung von Inhalativa unterstützt. Durch die Umstellung auf klimafreundlichere DPI lässt sich der der CO2-Fußabdruck signifikant senken. In einer post-hoc Analyse einer randomisierten, kontrollierten Studie führte die Umstellung auf DPI zu einer substanziellen Reduktion der Treibhausgasemissionen, ohne dass Nachteile hinsichtlich der Asthmakontrolle festgestellt wurden.
Fazit
Die Umwelt- und Klimaproblematik macht auch vor dem Gesundheitssektor keinen Halt. Eine rationale Pharmakotherapie, die neben medizinischen auch ökologische Aspekte berücksichtigt, ist eine bedeutende Möglichkeit, den CO₂-Fußabdruck des Gesundheitswesens und speziell der ambulanten Praxen zu reduzieren. Die Vermeidung von Übermedikation, eine kritische Indikationsstellung, sowie die Auswahl umweltfreundlicher Wirkstoffe und Darreichungsformen tragen nicht nur zur Effizienz und Nachhaltigkeit im Gesundheitssektor bei, sondern unterstützen auch langfristig die Gesundheit von Mensch und Umwelt.
Referenzen
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